Welcher Ort wäre für diesen Abend besser geeignet? Das Ost-Passage Theater (OTP) ist eine ehemalige Markthalle, die als Lichtspielhaus genutzt wurde, wegen Einsturzgefahr schließen musste und heute, nach unwahrscheinlich viel Einsatz durch Engagierte vor Ort, wieder ein unabhängiger Kulturraum ist – über einer Filiale von Aldi Nord. Und auch das Format ist ein Glücksfall: „Beste erste Bücher“ ist ein großer Abend der Romandebüts, bei dem die Texte im Mittelpunkt stehen. Es wird gelesen und punktgenau anmoderiert – kein Geschwafel, keine Fragen á la „Wie bist du zum Schreiben gekommen?“. Pate für das Konzept stand bei unserem ersten Literarischen Herbst im Oktober 2019 ein Lesungsformat am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (DLL), die „Institutsprosa“. Wer Ende der Neunziger, Anfang der Nullerjahre der Meinung war, dass die Literatur, die in Leipzig und Hildesheim, den damals noch einzigen akademischen Schreibschulen der Republik, entstand, zwar handwerklich perfekt und sprachlich ausgefeilt gewesen sei, aber leider nichts zu erzählen habe, brachte das gern auf eben diese Formel. Das Schmähetikett ist inzwischen zu einer positiv besetzten Trademark geworden: „Institutsprosa“ nennt sich eine von unserem Mitstreiter Jörn Dege organisierte Veranstaltung, die seit einigen Jahren zu Buchmesse-Zeiten für rappelvolle Räume am DLL sorgt.

Für den Literarischen Herbst haben wir die Grundidee ins OTP verpflanzt: Unter dem imposanten Tonnengewölbe an der Eisenbahnstraße wird aus sechs besonders vielversprechenden Erstlingen gelesen. Bei der Auswahl achten wir auf eine möglichst große Bandbreite der Texte – in Bezug auf die Autorinnen und Autoren selbst, den Stil und die verhandelten Themen der Bücher. Zur Premiere 2019 ging es um die Langzeitfolgen eines Verrats unter Freundinnen im rauen Berlin kurz nach der Wende (Lene Albrecht „Wir, im Fenster“, Aufbau), um geheimnisvolle Verknüpfungen zwischen Avantgarde-Tanztheater der 1020er und Tech-Start-ups der Gegenwart (Berit Glanz „Pixeltänzer“, Schöffling), um das Erwachsenwerden in der Provinz: die Verwundbarkeit, Neugier und Wut, die großen Pläne und Sackgassen, in denen sie oftmals enden (Kristin Höller „Schöner als überall“, Suhrkamp), es ging um den rätselhaften Tod eines Jugendfreundes, der schmerzhafte Fragen aufwirft (Tom Müller „Die jüngsten Tage“, Rowohlt), um den Wartestand zwischen Rausch und Sinnsuche von jungen Menschen im mondänen München der Jetztzeit (Désirée Opela „In Limbo“, Faber & Faber) und es ging schließlich um einen drückenden Spätsommer in Rumänien 1989 nahe der Grenze samt den persönlichen Verstrickungen am Vorabend eines politischen Umsturzes (Nadine Schneider „Drei Kilometer“, Jung und Jung).

2019 gestartet, wurde „Beste erste Bücher“ schnell zu einem der erfolgreichsten Formate des Literarischen Herbsts. Mit Berit Glanz und Tom Müller waren schon im ersten Jahr zwei der von uns Eingeladenen Finalisten für den ZDF-aspekte-Literaturpreis. Seitdem kann man im OTP in schöner Regelmäßigkeit Anwärter auf höhere Literaturbetriebs-Weihen hautnah erleben. Etwas Namedropping gefällig? Wir sprechen etwa von Deniz Ohde (aspekte-Literaturpreis 2020 und Shortlist Deutscher Buchpreis für „Streulicht“), Ariane Koch (aspekte-Literaturpreis 2021 für „Die Aufdrängung“), Verena Keßler (Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium 2021 für „Die Gespenster von Demmin“), Ferdinand Schmalz (der mit „Mein Lieblingstier heißt Winter“ 2017 schon den Bachmannpreis gewann und es mit dem fertigen Buch 2021 auf die Longlist zum Deutschen Buchpreis schaffte), Behzad Karim Khani (Shortlist aspekte-Literaturpreis, Debütpreis Harbourfront-Literaturfestival 2022 für „Hund, Wolf, Schakal“), Charlotte Gneuß („aspekte“-Literaturpreis und Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2023 für „Gittersee“), Dana Vowinckel (Mara-Cassens-Preis 2023 und Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse 2024 für „Gewässer im Ziplock“) oder Clemens Böckmann (Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2024 für „Was du kriegen kannst“). Ehrensache, dass man die „Besten“ auch gleich vor Ort erwerben kann – der Büchertisch wird seit 2019 von einer unserer sieben Leipziger Partnerbuchhandlungen betreut.

„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“: Dieser Vers aus „Stufen“, einem der bekanntesten Gedichte des Schriftstellers Hermann Hesse, ist in die Alltagssprache eingegangen. Er verweist aber auch darauf, wie eng die Rede vom Debüt mit der Schauseite des Buchmarkts verwoben ist: Wetten auf die Zukunft werden, wie an der Börse, abgeschlossen, fast so wichtig wieder Text zwischen zwei Buchdeckeln ist das Gesicht, die Geschichte des Autors, der Autorin, die auf der Bühne des Literaturbetriebs erstmals in Erscheinung treten. Nachdem es Debütromane in der Corona-Pandemie besonders schwer hatten, Veranstaltungsformate wie der Open Mike, bei denen Verlage und Agenten junge Talente entdecken, zeitweilig nur digital stattfanden, so dass sogar Autorenverbände wie der VS Alarm schlugen, investieren die Verlage nach wie vor in nachwachsende Autorinnen und Autoren.

Der deutschsprachige Autorennachwuchs ist mehrheitlich jung – die meisten sind in den 80er/90er Jahren geboren – und weiblich; rund drei Viertel der literarischen Debüts stammen von Frauen. In glücklichen Momenten gehen literarische Qualität und Markterfolg Hand in Hand: Der im Juli im Rowohlt-Verlag erschienene Debütroman „Die schönste Version” von Ruth-Maria Thomas ist jetzt schon ein voller Erfolg: Die FAZ nennt das Buch „ein berückendes Generationenporträt der Millennials”. Es war nominiert für den Deutschen Buchpreis 2024 und für den aspekte-Literaturpreis 2024, stand wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Die in der Lausitz aufgewachsene Autorin hat am Deutschen Literaturinstitut Leipzig an der Universität Leipzig studiert – und im zurückliegenden Sommersemester ihren Bachelor gemacht. Chapeau!

Unser Autor Nils Kahlefendt organisiert seit 2019 zusammen mit Jörn Dege und Anja Kösler den Literarischen Herbst – Leipziger Festival für Literatur.



