Birgitte Solheim ist so alt, dass die meisten ihrer Freunde schon gegangen sind. Den Großteil ihrer Wohnung verbringt sie in ihrer Pariser Wohnung und blickt zurück: Mit ihrer Karriere als Herzchirurgin – die erste in Norwegen! – brach sie erfolgreich in eine Männerdomäne ein, die Gründung einer Familie, der Wunsch nach eigenen Kindern mussten dahinter zurückstehen. Die Frau, die einer über 90jährigen Ausnahme-Medizinerin an der Schwelle zum Tod mit großartiger Einfühlung eine Stimme verleiht, ist die 1975 geborene, in Oslo lebende Kjersti Anfinnsen. Im Literaturhaus Leipzig und in Berlin war sie dieser Tage zu erleben – eine außergewöhnliche Vorbotin des norwegischen Gastlandauftritts zur Leipziger Buchmesse im März.
Im Brotberuf ist Kjersti Anfinnsen, Jahrgang 1975, Zahnärztin – daneben hat sie sich in ihrer Heimat Norwegen als Autorin und DJane einen Namen gemacht. Nach Studiengängen zum literarischen Schreiben in Tromsø und Bergen veröffentlichte sie 2012 ihr Debüt. „Letzte zärtliche Augenblicke“, das eben im Wiener Septime Verlag erschien, ist ihre erste Publikation im deutschen Sprachraum. Der von der eindrucksvollen Protagonistin Birgitte Solheim geprägte Roman erschien im Original ursprünglich in zwei Bänden: „Die letzten Zärtlichkeiten“ (2019) und „Augenblicke für die Ewigkeit“ (2021) – letzterer wurde bis heute in 13 Sprachen übersetzt und war für den Literaturpreis der Europäischen Union nominiert.

Wie, fragt man sich schon nach Lektüre der ersten Seiten von „Letzte zärtliche Augenblicke“, ist eine Frau von noch nicht einmal fünfzig Jahren fähig, so vollkommen in die Gedanken- und Gefühlswelt einer über Neunzigjährigen einzudringen? Ein Zufall, erklärt Anfinnsen in Leipzig: „Ich habe mich fünf Jahre erfolglos mit einem anderen Buch abgemüht – und dann, quasi als Lockerungsübung, angefangen, kleine Texte zu schreiben, aus denen eine mir unbekannte Bitternis sprach. Ich fragte mich: Was ist das für eine Stimme? Nach und nach wurde mir klar, dass es die Stimme einer sehr alten Frau sein muss, die die Summe ihres Lebens zieht.“ So wurde die Herzchirurgin Birgitte Solheim erfunden. Da es, als Anfinnsen am Buch schrieb, in ganz Norwegen noch keine realexistierende Herzchirurgin gab, lässt sie die Birgitte des Romans in New York Karriere machen.

Auf dem Original-Cover des Kolon Verlags (Oslo) ist ein Skalpell zu sehen: Das Instrument der Chirurgin, aber auch ein Bild für den Ton Birgitte Solheims: Er ist äußerst präzis und genau, aber auch von ätzender Schärfe und zuweilen Bösartigkeit. Ihre Bitterkeit hat zweifellos mit der Erfahrung zu tun, gegen Ende des eigenen Lebens in der Gesellschaft fast unsichtbar zu sein, nicht gehört zu werden – eine gefühlte Lebensungerechtigkeit.Kjersti Anfinnsens große Kunst besteht darin, dieses Buch nicht nur in schwärzesten Farben gehalten zu haben. Der Roman entwickelt überraschend tragikomische Momente, etwa in der skurrilen Skype-Beziehung Birgittes zu ihrer Schwester und in jener zu ihrem Freund Javiér, den sie, selbstverständlich, übers Netz kennengelernt hat und der im Fortgang der Ezählung einen Demenzschub erleidet. Fast schon regelmäßig wird Anfinnsen gefragt, wie es ihr, in der Mitte des Lebens stehend, möglich ist, sich in eine alte Frau hineinzuversetzen? „Das ist eines der Wunder von Literatur“, sagt Kjersti Anfinnsen. „Die Kraft der Imagination erlaubt es mir, freier zu sein, als wenn ich nur über mich schreiben würde.“



